Verbannung aus der Heimat
Das 9/11 von 1973 in Chile änderte das Leben von Carmen schlagartig.
Elisabeth Valentina Llanos Wild (Text), Monna Vasileva (Design)
Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär unter der Führung General Augusto Pinochets mit Unterstützung der CIA gegen die sozialistische Regierung in Chile. Der damals amtierende Präsident Salvador Allende weigerte sich, auf das Ultimatum der Putschist*innen einzugehen und abzudanken und verschanzte sich im Präsidentenpalast. Wenige Stunden vor seinem Tod richtete er sich in einer Radioansprache an das chilenische Volk mit den Worten: „Ich werde nicht zurücktreten! In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit meinem Leben bezahlen.“ Nach der Bombardierung des Palasts von La Moneda in der Hauptstadt Santiago wurden zehntausende Regimegegner und -gegnerinnen des Landes erbarmungslos verfolgt, hingerichtet oder in Folter- und Konzentrationslager gesperrt. Etwa 200.000 Chilenen und Chileninnen gingen ins Exil.
Eine dieser ins Exil getriebenen Personen war Carmen. Die heute in Ulm lebende Chilenin wurde in La Polcurageboren, im Zentrum des chilenischen Avocado-Anbaus, dessen Anwohner*innen seit Jahren unter Wassermangel leiden, da für die Herstellung der Frucht pro Kilogramm schätzungsweise 1.000 Liter Wasser benötigt werden. Da ihr Vater, ein Polizist, fast das ganze Jahr über an der Grenze zu Argentinien arbeitete und ihre Mutter aufgrund ihres schweren Asthmas bettlägerig war, musste Carmen schon als 8-Jährige die Familie unterstützen. In den Schulpausen und nach dem Unterricht machte sie die Betten in einem Hotel und erhielt dafür jeweils eine Mahlzeit für sich, ihre Mutter und ihre beiden jüngeren Schwestern.
Der Leichnam von Allende wird aus dem Präs-identenpalast gebracht, Foto von Charles Ger-retsen veröffentlicht in El Mercurio de Santiago am 13. September 1973.
Mit 17 Jahren heiratete Carmen ihren inzwischen verstorbenen Ehemann Alberto, einen Ingenieur, der in Bolivien zusammen mit Che Guevara im Guerillakrieg kämpfte. „Ich habe mich schon immer gegen das machistische und patriarchale System in Chile aufgelehnt und hatte das Glück, dass mein Ehemann dieselben Rechte verteidigt hat wie ich. Er hat mich verstanden und unterstützt.“
Am schicksalhaften Tag des Putsches war Carmen 22 Jahre alt. In dem Haus, in dem ihre Eltern, Geschwister, Töchter und Neffen lebten, erfuhr sie über das Radio von dem Staatsstreich durch Pinochet. Bereits wenige Minuten später begann die Polizei in La Polcura die Leute aus ihren Häusern zu holen und zu verhaften. Insbesondere auf die linkspolitischen Minenarbeiter und Bauern hatten sie es abgesehen. Mit Helikoptern schoss das Militär auf die Arbeiter. „Sie sind gefallen wie die Fliegen“, sagt Carmen.
In Sorge um ihren Ehemann, der damals in der Kupfermine arbeitete, begab sie sich zusammen mit ihrem Bruder auf die Suche nach ihm. Leute aus der Nachbarschaft sagten ihr, dass in einem nahegelegenen Haus mehrere Tote lägen. Ihr Bruder ging in das besagte Haus, stürmte jedoch gleich wieder hinaus und übergab sich. Als Carmen auch in das Haus gehen wollte, hätte ihr Bruder noch versucht, sie zurückzuhalten. „Aber ich musste die Gewissheit haben, ob mein Ehemann dort drin ist“, meint Carmen. Als sie das Haus betrat, bot sich ihr ein Bild des Grauens. „In den Regalen lagen Köpfe und die Körper hingen von den Decken“, sagt sie mit gebrochener Stimme. Zwar hätten sich viele Bekannte unter den verstümmelten Opfern befunden, ihr Mann sei jedoch nicht unter ihnen gewesen. Etwas später bekam sie den Hinweis, dass ihr Mann ins Gefängnis in San Felipe gebracht worden war, zwei Autostunden von La Polcura entfernt. Carmen machte sich sofort mit ihren beiden kleinen Töchtern auf den Weg. Dort angekommen, brachte man sie zu ihrem Ehemann, von dem sie erfuhr, dass er noch versucht hatte, über den Fluss nach Santiago zu flüchten, um dort in einer Botschaft Schutz zu suchen, jedoch später vom Militär aufgegriffen wurde.In Sorge um ihren Ehemann, der damals in der Kupfermine arbeitete, begab sie sich zusammen mit ihrem Bruder auf die Suche nach ihm. Leute aus der Nachbarschaft sagten ihr, dass in einem nahegelegenen Haus mehrere Tote lägen. Ihr Bruder ging in das besagte Haus, stürmte jedoch gleich wieder hinaus und übergab sich. Als Carmen auch in das Haus gehen wollte, hätte ihr Bruder noch versucht, sie zurückzuhalten. „Aber ich musste die Gewissheit haben, ob mein Ehemann dort drin ist“, meint Carmen. Als sie das Haus betrat, bot sich ihr ein Bild des Grauens. „In den Regalen lagen Köpfe und die Körper hingen von den Decken“, sagt sie mit gebrochener Stimme. Zwar hätten sich viele Bekannte unter den verstümmelten Opfern befunden, ihr Mann sei jedoch nicht unter ihnen gewesen. Etwas später bekam sie den Hinweis, dass ihr Mann ins Gefängnis in San Felipe gebracht worden war, zwei Autostunden von La Polcura entfernt. Carmen machte sich sofort mit ihren beiden kleinen Töchtern auf den Weg. Dort angekommen, brachte man sie zu ihrem Ehemann, von dem sie erfuhr, dass er noch versucht hatte, über den Fluss nach Santiago zu flüchten, um dort in einer Botschaft Schutz zu suchen, jedoch später vom Militär aufgegriffen wurde.„In den Regalen lagen
Köpfe und die Körper
hingen von den Decken“
Aufgrund der Verbindung zu Che Guevara wurden Carmens Ehemann Alberto und Carmen selbst als Regimegegner eingestuft. Im Kreuzverhör sollte das Ehepaar Namen politischer Gegner*innen nennen, die sie kannten. Wenn sie sich weigerten, würden sie für zehn Jahre ins Gefängnis kommen oder sie müssten sich sofort ins Exil begeben. Carmen und ihr Ehemann lehnten es ab, die Namen preiszugeben. „Ich hätte das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können“, sagt Carmen, „und ich stand mit dem Rücken zur Wand, entweder aus meinem eigenen Land fliehen oder meinen Vater zurücklassen.“ Da ihre Mutter bereits verstorben war und ihre Geschwister sich um ihren Vater kümmern würden, entschied sich Carmen für das Exil.
Nachdem sie all ihr Hab und Gut verkauft hatten, flüchtete Carmen zusammen mit ihrem Ehemann und ihren beiden kleinen Töchtern zunächst in ein deutsches Kloster in der Hauptstadt Santiago und stellte sich dort Amnesty International vor. Am 16. Januar 1974, fünf Monate nach der gewaltsamen Regimeübernahme, wurde die Familie schließlich nach Deutschland ausgeflogen.
In Frankfurt angekommen, nahm sie der damalige Kanzler Willy Brandt, der perfekt Spanisch sprach, in Empfang. „Als wir aus dem Flugzeug ausgestiegen sind, hatten wir alle Sandalen und kurze Sachen an, denn in Chile herrscht im Januar Hochsommer“, sagt Carmen. „Viele Deutsche haben uns im Fernsehen gesehen und brachten uns Winterkleidung an den Flughafen.“ Mit dem Bus wurden alle Flüchtlinge in die Erstaufnahmeeinrichtung Unna-Massen nahe Köln gebracht. Von dort aus wurden sie verteilt: Ingenieure und Minenarbeiter nach Gelsenkirchen, Medizinstudierende nach Bochum und Architekten nach Bonn. Carmen und ihre Familie wurden Gelsenkirchen zugeteilt, da Carmens Ehemann dort in der Kupfermine arbeiten konnte.
„In den Regalen lagen
Köpfe und die Körper
hingen von den Decken“
„Als ich in Deutschland ankam, war ich sehr traurig. Ich hatte begriffen, dass ich nicht mehr in meinem Heimatland war, sondern in einer ganz anderen Welt.“ Außerdem hat Carmen sich oft schlecht gefühlt, weil sie das Gefühl hatte, von den Menschen auf der Straße ausgelacht zu werden, da sie nicht verstand, worüber sie sprachen. Um die deutsche Sprache zu erlernen, setzte sie sich in einen Park und versuchte, sich die Wörter zu merken, die sie von vorbeigehenden Passant*innen aufschnappte. Zuhause übte sie vor dem Spiegel und wiederholte alles, was sie gehört hatte. Auch hat sie wegen der großen Buchstaben mithilfe der BILD Zeitung Deutsch gelernt.
Um schnellstmöglich von der finanziellen Unterstützung der deutschen Regierung und Amnesty International unabhängig zu werden, begann Carmen, in einer Fleisch- und Wurstwarenfabrik zu arbeiten. „Die Arbeiter dort haben meinen Namen nicht aussprechen können und nannten mich Allen, sagt Carmen schmunzelnd. „Ich denke immer sehr gerne an Gelsenkirchen zurück. Ich habe mich dort wie in Chile gefühlt. Die Menschen waren alle sehr freundlich und haben mich respektvoll behandelt.“ 1976 hatte ihr Ehemann einen Arbeitsunfall und wurde arbeitsunfähig. Carmen fand eine Stelle als mexikanische Köchin in einer Restaurantkette in Hannover. Im Laufe der Jahre wurde sie in mehreren Restaurants eingesetzt, darunter Karlsruhe, Göppingen und Ulm.
Im selben Jahr endete die brutale Diktatur von Pinochet. „Einerseits war ich erleichtert, andererseits war ich traurig, weil dieser Mann (Pinochet) so eine Hetzjagd veranstaltet und so viel Schmerz verursacht hat.“ 2009, 37 Jahre nach dem Putsch, konnte Carmen mit einer 15-tägigen Sondergenehmigung der damals amtierenden Präsident Michelle Bachelet nach Chile zurückkehren, um die Urne ihres Ehemanns beizusetzen, der 2007 gestorben war.
Auf die Frage, ob sie rückblickend etwas anders ge macht hätte, antwortet sie: „Ich bereue nichts von dem, was ich getan habe. Ich schäme mich auch nicht, im Gefängnis gewesen zu sein, weil ich nicht wegen Drogenbesitz oder Mord im Gefängnis war, sondern meine Rechte als chilenische Frau verteidigt habe.“
Nachwort
Carmen wohnt heute zusammen mit ihren Kindern in Ulm und kümmert sich um ihre Enkelkinder. Mehr als 3.000 Menschen starben oder verschwanden während Pinochets blutiger Diktatur, die 17 Jahre andauerte. Pinochet wurde wegen seiner Taten nie verurteilt und starb im Dezember 2006. Heute herrscht in Chile eine Präsidialdemokratie.